24.10.2019

Zu Gast in der ersten Aargauer Notschlafstelle

Von Cornelia Suter

  • Seit dem 1. September hat in Baden die erste Aargauer Notschlafstelle ihre Tore geöffnet.
  • Mittellose Menschen ohne Obdach können für 5 Franken pro Nacht eine warme Mahlzeit beziehen und ruhig und sicher schlafen.
  • Bereits nutzen einige dieses Angebot. Horizonte war an einem Abend zu Besuch.

 

Die Klingel ertönt und Susi Horvath, Leiterin der ersten Aargauer Notschlafstelle, gewährt Einlass. Sie freut sich, dass bereits einige Bedürftige das Notschlafstellenangebot regelmässig nutzen. Vor der Tür steht David. Schon seit ein paar Tagen bewohnt der 32-jährige ein Zimmer der Notschlafstelle. Heute hat er einen Brokkoli und einen Sack Reis unter dem Arm. David kämpft sich damit die Treppen hoch bis in den 3. Stock. Hier in der Küche will er für seine «neue Familie» kochen. Seine Familie, das sind jetzt die Mitarbeiter der Notschlafstelle, die freiwilligen Helfer und die Gäste.

Gemeinsames Essen und die Frage nach dem Selbstschutz

Leiterin Susanne Horvath: «Wir sind kein Hotel»

Alle packen mit an. Während die Helferin Ruth den Tisch deckt, verarbeitet David einen Kürbis, den soeben ein weiterer Gast mitgebracht hat. Es ist Bettina. Die frühere Schriftsetzerin spricht viel über ihren ehemaligen Beruf. 33 Jahre lang lebte sie in Zürich in einer kleinen Wohnung. Seit drei Wochen steht sie auf der Strasse. Weshalb es dazu gekommen ist und wieso sie keinen Job mehr hat, bleibt für uns ein Rätsel. Dass die Besucher selbständig den Kochlöffel schwingen, ist vor allem dem Hobbykoch David zu verdanken.

Während die Zwiebeln brutzeln und die Töpfe klappern, beziehen die letzten Gäste noch schnell ihre Betten vor dem Essen. «Wir sind kein Hotel», bestätigt Susi Horvath mit einem Augenzwinkern. Die Gäste müssen im Rahmen ihrer Möglichkeiten mithelfen und lernen, Verantwortung zu übernehmen. So stehen beispielsweise im Keller Waschmaschine und Tumbler. Wer waschen möchte, muss dies selbst tun. Die Mitarbeiter stehen mit Rat und Tat zur Seite.

Alternative zum Leben im Wald

Seit dem ersten Tag wird die Notschlafstelle von Bedürftigen aufgesucht. «Wir haben zwölf Betten zur Verfügung», bestätigt Susi Horvath mit einem gewissen Stolz in ihrer Stimme. Sechs gehören zur Notpension, welche über längere Zeit genutzt werden darf. Die weiteren sechs Betten sind für Gäste der Notschlafstelle reserviert. Letztere müssen tagsüber die Unterkunft verlassen. Am heutigen Abend sind drei Gäste gekommen – darunter David und Bettina.

David wird die Notunterkunft früh am Morgen wieder verlassen, um zu seiner Strickgruppe zu fahren. Er hat das Handwerk mit Wolle und Nadel erst frisch erlernt und arbeitet gerade an einem Schal für den kommenden Winter. «Das wird kalt», befürchtet David. Er hofft, bis dahin eine eigene Bleibe, beispielsweise ein WG-Zimmer, gefunden zu haben und nicht mehr wie früher im Wald Unterschlupf suchen zu müssen. Dabei hilft ihm seine Sozialberaterin, welche er regelmässig besucht. «Wenn das klappt, koche ich am Abend für meine neuen Mitbewohner», malt es sich David aus und ist zuversichtlich, dass er dann endlich wieder in den normalen Alltag zurückfindet. «Wir sind immer bestrebt, für unsere Gäste Anschlusslösungen zu finden», erklärt Susi Horvath.

Sorgen der Nachbarschaft: Unruhe und Drogenkonsum

Ich verlasse die Notschlafstelle kurz vor Mitternacht, um meine Sachen ins Auto zu packen. Es ist ruhig um mich herum, fast zu ruhig. Schliesslich befinde ich mich mitten in der Stadt Baden. Da, wo die Leute normalerweise im Café sitzen oder die Nachbarn untereinander einen Schwatz abhalten.

Genau diese Nachbarn hatten zu Beginn des Projektes grosse Bedenken. Unruhe, Drogenkonsum oder betrunkene Randalierer waren die Sorge der Anwohner. Bis jetzt, so bestätigt die Leiterin, ist es nicht soweit gekommen. «Wenn jemand Ärger macht, so rufen wir sofort die Polizei. Wir sind stets bedacht darauf, dass die Nachbarschaft nicht belästigt wird».

Polizei: Bis jetzt kein Einsatz erforderlich

Auch die Polizei bestätigt, dass es in den ersten Wochen seit der Eröffnung nicht zu einem Einsatz gekommen ist. Eine Passantin, die soeben vorbei huscht und den Weg in ihr eigenes warmes Zuhause sucht, erzählt, dass die anfängliche Sorge unbegründet gewesen sei.

Ein letzter Blick hoch zum Fenster. Die Lich­ter sind aus, David schläft. Für heute Nacht an einem sicheren Ort, geborgen auf einer weichen Matratze unter der warmen Bett­decke.

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