06.05.2024

Antisemitismus in der Schweiz
«Zuerst mal die eigenen Vorurteile prüfen»

Von Eva Meienberg

  • Jede fünfte Person denkt in meist negativen Bildern über jüdische Menschen.
  • Diese Stereotype haben nicht zuletzt mit unserer christlichen Erziehung zu tun.
  • Urs Urech, Geschäftsführer der Stiftung Erziehung zur Toleranz, vermittelt Strategien gegen antisemitische Haltungen.


«Dich sollte man vergasen», wird ein Schüler einer Aargauer Bezirksschule beschimpft. Er wird geschubst, geschlagen und seine Hosen werden ihm heruntergezogen. Das ist ein besonders gravierendes Beispiel aus dem Antisemitismusbericht des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG) und der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA). Vorfälle in dieser Art hätten sie seit 20 Jahren nicht mehr beobachtet, sagt Urs Urech, Geschäftsführer der Stiftung Erziehung zur Toleranz (SET). Die letzte vergleichbare Antisemitismuswelle habe die Schweiz in den 1990er Jahren überrollt – als sich das Land schweren Vorwürfen zum Umgang mit den Vermögen der Holocaust-Opfer ausgesetzt sah.

Urs Urech ist Geschäftsführer der Stiftung Erziehung zur Toleranz SET und Präsident der Christlich-Jüdische Arbeitsgemeinschaft. | Bild: zVg

Typisch jüdisch!?

Im vergangenen Jahr hätten sich die antisemitischen Vorfälle verdreifacht, heisst es im Bericht. Die meisten ereigneten sich nach der Terrorattacke der Hamas am 7. Oktober. Der Angriff eines 15-Jährigen auf einen jüdisch-orthodoxen Mann in Zürich am 2. März dieses Jahres ist der gravierendste antisemitische Angriff seit Langem. Der Täter war ein Schüler, der sich im Netz mit IS-Ideologien radikalisiert hatte. Es wäre aber verfehlt, Antisemitismus als ein Phänomen einzelner verwirrter Täter abzutun. Antisemitische Stereotype und Handlungen finden sich in der breiten Schweizer Bevölkerung. Eine Studie des Bundesamtes für Statistik von 2020 zeigt, dass über 20% der Schweizer Bevölkerung den Jüdinnen und Juden stereotype Eigenschaften zuordnen. Solche Stereotype sind etwa der reiche Jude, Juden als Wucherer und Betrüger oder die Vorstellung, eine geheime jüdische Elite strebe nach der Weltherrschaft.

Teil der Religion und Kultur

«Antisemitismus gibt es schon seit der Antike und ist ein Teil unserer Kultur geworden», sagt Urs Urech, «er ist so verbreitet, dass er gleichsam unsichtbar geworden ist.» Der Antirassismustrainer nennt als Beispiel Begriffe, die sich im Sprachgebrauch etabliert haben: etwa der «Judenhandel» oder die «Judenschule» – beides negativ besetzte Begriffe. Es gibt auch Gesetze, die sich ausschliesslich gegen jüdisches Leben richten, etwa das Schächtverbot. Viele Beispiele gibt es auch in der christlichen Religion. Der christliche Antijudaismus hat bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil auch die katholische Lehre geprägt. Die christliche Sozialisation gehe einher mit antisemitischen Geschichten und Bildern: Dazu gehöre etwa die Abgrenzung des lieben Gottes im Neuen Testament zum zornigen Gott des Alten Testaments. Selbst die Unterscheidung in ein Neues und Altes Testament hierarchisiere die Textsammlungen. Die Dämonisierung der Pharisäer, der Vorwurf des Gottesmordes, die Darstellung von Judas als Verräter sind weitere Beispiele, die Urs Urech nennt. Bei allen kommen die jüdischen Menschen nie gut weg.

Blick von der Kuppel des Petersdoms auf die Vatikanischen Gärten. | Foto: Marie-Christine Andres

Heute leben in der Schweiz 18 000 Jüdinnen und Juden. Sie seien zuallererst Schweizerinnen und Schweizer. Viele von ihnen hätten mit dem Staat Israel so viel zu tun wie Katholikinnen und Katholiken mit dem Vatikan. In jüngster Zeit kommen Urs Urech gravierende Geschichten zu Ohren. Jüdinnen und Juden, die sich nicht mehr in der Öffentlichkeit zeigten. Er weiss von jüdischen Menschen, die ihr Türschild abmontiert haben, damit ihr jüdischer Name nicht mehr zu lesen ist. Andere liessen das Taxi zwei Strassen weit von zu Hause anhalten, damit ihre Adresse nicht bekannt wird.

Der Hass der Erwachsenen

Die Stiftung Erziehung zur Toleranz engagiert sich mit Bildungsprojekten in Kindergärten, in Primarschulen und auf der Oberstufe für eine tolerante Schulkultur. Doch Antisemitismus sei nicht das Thema der Jungen, der Hass komme von den Erwachsenen, sagt Urs Urech. Seit der erneuten Antisemitismuswelle nach dem Hamas-Terror beschäftige ihn, mit welchen Bildungsangeboten die Erwachsenen erreicht werden können. Er höre kritische Stimmen, die mit dem aufflammenden Antisemitismus die Berechtigung des interreligiösen Dialogs in Zweifel ziehen. Urs Urech ist überzeugt, jetzt seien alle besonders in der Pflicht, sich gegen antisemitisches Verhalten zur Wehr zu setzen. Am besten man beginne damit, die eigenen Vorurteile zu prüfen. Welche Bilder habe ich von jüdischen Menschen? Neige ich zu Pauschalisierungen? Dann sei es wichtig, genau hinzuhören und antisemitische Angriffe anzusprechen und zu stoppen. Aus verbalen Angriffen könnten bald tätliche werden. Eltern, Lehrpersonen, Seelsorgende, Fussballtrainer müssten selbst auf Mikroaggressionen reagieren. Auch im Netz auf den sozialen Medien, in Chaträumen und Kommentarspalten gibt es Antisemitismus. Die Gegenrede, auch Counter­speech genannt, könne andere Teilnehmende ermutigen, ebenfalls Stellung zu beziehen. Urs Urech fordert gerade die Kirchen auf, jetzt besonders ihre Friedensbotschaft zu verkünden.

Antisemitismus: Welche Rolle spielen Christentum und Islam?

Podcast «Laut + Leis», Folge 25

Seit dem Terroranschlag der Hamas auf Israel nehmen antisemitisch motivierte Gewalttaten sprunghaft zu. Auch in der Schweiz. Der Extremismusforscher Dirk Baier und der Islamwissenschaftler

Reinhard Schulze gehen den Ursachen auf den Grund und sagen, was die Schweiz im Unterschied zu Deutschland und Frankreich besser macht.

Themen dieser Folge:

  • Es gibt zahlenmässig in der Schweiz nicht mehr Antisemit:innen. Gestiegen ist die Bereitschaft, Antisemitismus zu äussern und bis zur Tat zu gehen
  • Wie und wo sich Jugendliche radikalisieren
  • Muslimische Jugendliche haben ein deutlich höheres Antisemitismus-Risiko
  • Die Wahrscheinlichkeit, dass Muslime in der Schweiz schwere Gewalt ausüben, ist gerundet null
  • Muslim:innen sind in der Schweiz deutlich besser integriert als in Deutschland und Frankreich
  • Antisemitismus an Universitäten
  • Drei Faktoren für die Prävention
  • Die Rolle der Moscheen, der muslimischen Vereine und des Staates
  • Die neuste Studie: «Antisemitismus unter Jugendlichen in Deutschland und der Schweiz. Welche Rolle spielt die Religionszugehörigkeit?»
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