12.06.2023

Am 14. Juni findet der Feministische Streik statt. Auch in Aarau gibt es eine Demonstration.
Auf die Strasse!?

Von Eva Meienberg

  • Der Streik gehört für eine Mitte-Politikerin nicht zum traditionellen Repertoire.
  • Pia Viel findet es legitim, politische Forderungen auf die Strasse zu tragen: Der Streik schaffe Aufmerksamkeit.
  • Aber dann müssten aus Forderungen Gesetze entstehen. Das ist die Arbeit, welche die katholische Politikerin aus Ehrendingen wirklich interessiert.

Aus dem Frauenstreik wurde der Feministische Streik. Wie stehen Sie zu diesem Namenswechsel?
Pia Viel*: Ich finde ihn nicht gut. Feminismus hat ein schlechtes Image bei vielen Menschen. Sie stellen sich radikale Frauen vor, die ausschliesslich für ihre eigenen Rechte kämpfen. Mit dieser Namensänderung haben wir im Aargau bewirkt, dass die Landfrauen nicht mehr mitmachen. Die Mitte-Frauen kommen im Aargau zwar zu den Kundgebungen aber marschieren nicht mit.

Und Sie selbst, marschieren Sie mit?
Ich werde mich spontan entscheiden. 2019 war mir der Marsch zu laut. Das ist nicht meine Art.

Feministische Streikfaust mit Rosenkranz | Illustration: Nathalie Koller/bureauplus.ch

Bezeichnen Sie sich als Feministin?
Ja. Denn für mich bedeutet Feminismus eine umfassende Entwicklung, die das Leben für alle Menschen gerechter macht.

Was fordern Sie am Streik?
Ich fordere, dass die Familien im Kanton Aargau für die Kinderbetreuungskosten überall nach dem gleichen Tarifsystem unterstützt werden . Es darf keine Rolle spielen, ob eine Familie in Untersiggenthal oder in Gebenstorf wohnt. Gegen diese Ungerechtigkeit setze ich mich ein.

Tun Sie das auch in Ihrer Rolle als Mitte-Präsidentin des Bezirks Baden?
Ja, aber für diese Forderung setzt sich meine Partei nicht explizit ein. Und das, obwohl sie sich als eine Familien-Partei darstellt und sagt, sie setze sich für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ein. Die Gemeindehoheit wird in der Mitte hochgehalten. Man will den Gemeinden nicht vorschreiben, wie sie die Gelder vom Kanton einsetzen müssen.

Sie sagen, seit das Christlich aus dem Namen Ihrer Partei gestrichen wurde, hätten Sie mehr Zulauf von jüngeren Menschen. Vielleicht hätten Sie mehr Zulauf in den Frauenvereinen, wenn das katholisch aus dem Namen verschwinden würden?

Pia Viel, Präsidentin des Aargauer Katholischen Frauenbundes und von Die Mitte Region Baden

Es gibt Ortsvereine, die das machen, weil sie für Frauen aller Konfessionen und Religionen offen sein wollen. Wir haben uns entschieden, dass katholisch zu unserer Identität gehört. Und zu unserem Programm gehört, dass wir uns für eine offene, bessere Kirche einsetzen. Im AKF sind trotzdem alle Konfessionen willkommen, solange sie die christlichen Grundwerte vertreten können.

Sie setzen sich auch ein für Gleichstellung und gingen dafür 2018 auf die Strasse …
Als der Kanton die Fachstelle Gleichstellung in der Budgetdebatte gestrichen hat, haben wir vom Aargauer Katholischen Frauenbund vor dem Grossratsgebäude demonstriert. Mit dabei waren viele AKF-Frauen, die sich seit Jahrzehnten für die Gleichstellung eingesetzt hatten. Susi Krämer war früher Mitglied des Vereins Aargauer Staatsbürgerinnen, der sich schon für das Frauenstimm- und Wahlrecht einsetzte, war Präsidentin der STAKA (Staatsbürgerliche Verband katholischer Schweizerinnen), Präsidentin der CVP Stadt Baden und Vorstandsmitglied der Frauenzentrale Aargau. Ebenfalls anwesend war Irmeline Gehrig-Borer, ehemalige Grossrätin, welche mit einer Motion die Schaffung der Fachstelle gefordert hatte. Diese Frauen konnten nicht verstehen, dass sie mit 80 Jahren für den Erhalt der Fachstelle für Gleichstellung wieder auf die Strasse gehen mussten. Gleichstellung betrifft alle Menschen: Menschen mit Behinderung, alleinerziehende Menschen, Menschen mit Migrationshintergrund. Im Kanton Aargau gibt es noch viel zu tun, damit allen Menschen Gerechtigkeit widerfährt. Darum fordere ich am Feministischen Streik die Wiedereinführung einer Fachstelle für Gleichstellung im Kanton Aargau.

Hinter welchen aktuellen Forderungen des Feministischen Streiks stehen Sie?

Pinke Mitren, pinke Gummistiefel, hier und da ein gestrickter Pussyhat und viele, viele Streikpunkte. Pink überwog, gefolgt von Violett. | © Anne Burgmer

Ich stehe hinter der Forderung nach Lohngleichheit und nach einem Mindestlohn. Als Beispiel: Der Mindestlohn für eine Fachperson Betreuung liegt nach der Ausbildung bei 4100 Franken. Die Betreuungsarbeit von Kindern ist sehr wertvoll und trägt zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf bei. Für einen genügend hohen Lohn der Betreuenden müssten die Eltern mehr bezahlen, was nicht wünschenswert ist. Darum finde ich es richtig, dass der Bund das Impulsprogramm zur Förderung der familienergänzenden Kinderbetreuung verlängert hat.

Wie sieht es mit weiteren Forderungen aus?
Es ist höchste Zeit, dass wir die Pflegeinitiative umsetzen. Ausserdem bin ich für einen tieferen Koordinationsabzug für die zweite Säule. Zudem sollte es möglich sein, bereits ab 20 Jahren Sparkapital einzuzahlen, wenn eine Person berufstätig ist. Die über die Zeit ansteigenden Abzüge finde ich für die Betriebe und die Sparenden belastend, da würde ich mir mehr Flexibilität wünschen.

Es gibt die Forderung nach der Abschaffung des Drei-Säulen-Systems in der Altersvorsorge zugunsten einer einzigen Säule. Wie denken Sie darüber?
Da bin ich dagegen. Alle sollten die Gelegenheit haben ergänzend zur AHV für sich zu sparen. Wir wissen nicht, wie es mit der AHV weitergeht. Ich würde mich nur mit der AHV unsicher fühlen.

Wie denken andere AKF-Frauen über diese Forderung?
Vor allem ältere Frauen haben sich bei mir gemeldet und mich aufgefordert, die Forderungen nicht zu unterstützen. Die Auflösung des Drei-Säulen-Prinzips und die Einheitskassen finden diese Frauen total daneben. Sie haben das Gefühl, es werde alles kaputt gemacht, was sie aufgebaut haben. Das sind Frauen, die noch für das Frauenstimmrecht und die AHV auf die Strasse gingen.

Wie gehen Sie mit der Heterogenität des Feministischen Streiks um?
Alle müssen einen Platz haben in dieser Bewegung. Ich möchte auch nicht diskriminiert werden, weil ich nicht alle Forderungen unterstütze. Zusammen haben wir eine grosse Kraft. Wir vom AKF schreiben die Solidarität anderen gegenüber gross.

Spiegelt sich diese Heterogenität auch im AKF?

Am 14. Juni 2019 fand nach 25 Jahren der zweite grosse Frauenstreik in der Schweiz statt. An vielen Orten organisierten sich auch kirchlich Engagierte und in der Kirche berufstätige Frauen zum Frauen*Kirchenstreik. Dieser dauerte bis zum Sonntag, 16. Juni 2019. Besonders der Schweizerische Katholische Frauenbund (SKF) hatte zu verschiedenen Aktionen aufgerufen. | © Anne Burgmer

Ja, die Frauen im AKF sind sehr unterschiedlich.

Wie gehen Sie damit um?
Ich bin eine sehr tolerante Person, die andere Meinungen stehen lassen kann. In meinem Leben, das ich über dreizehn Jahre im Ausland verbracht habe, habe ich gelernt, dass es viele verschiedene Wege gibt, um ans Ziel zu kommen. Es gibt verschiedene Wertvorstellungen, die man akzeptieren muss. Und dennoch müssen wir im Vorstand des AKF Entscheide treffen. Dafür haben wir Grundsätze formuliert. Entscheide dürfen diesen nicht widersprechen. Aber wir können es nie allen recht machen.

Welche aktuellen Streikforderungen lehnen Sie ab?
Ich bin gegen eine Senkung des Rentenalters. Menschen, die länger arbeiten können, sollen das können. Natürlich gibt es Branchen, in denen die Arbeitnehmenden früher in Pension gehen können sollen, etwa in der Baubranche. Ich wünsche mir ein Modell, in dem das Pensionsalter gleitend erreicht werden kann, je nachdem, wie es den Arbeitnehmenden bei der Arbeit gesundheitlich ergeht. Ich möchte auch keine einheitliche, öffentliche Krankenkasse. Beispiele aus Deutschland und England zeigen, dass Menschen, die es sich leisten können, zusätzlich zur Einheitskasse eine private Versicherung haben, um bessere Leistungen zu bekommen. Wir haben die Prämienverbilligungen, die dazu da sind, Menschen zu unterstützen, die sich die Krankenkassenbeiträge nicht leisten können.

Wie stehen Sie zur Berentung der Care-Aufgaben, die gratis geleistet werden?
Das finde ich sehr gut. Aber ich glaube, dass wir dafür noch lange kämpfen müssen. Immerhin können wir bei der AHV die Zeit, in der wir Kinderbetreuung geleistet haben, anrechnen lassen.

Nach wie vor herrscht Ungleichheit in vielen Bereichen. Frauen sind überdurchschnittlich von Armut betroffen. Gleichzeitig leisten sie mehr Care-Arbeit als Männer. Letztere wiederum geraten oft in Schwierigkeiten, wenn sie für die Familie ihr Pensum reduzieren wollen. Männer haben auch keinen Anspruch auf Vaterschaftsurlaub. | © Anne Burgmer

Was halten Sie von der Forderung nach einem Jahr Elternzeit pro Person und Kind?
Ich bezweifle, dass wir uns das leisten können. Ich bin dafür, dass die Eltern in Teilzeit arbeiten können und sich die Elternarbeit aufteilen. Jede Familie sollte die Wahl haben, wie sie die Betreuungsarbeit organisieren möchte aber dafür braucht es die Lohngleichheit.

Wie sieht es mit der Arbeitsteilung bei Ihnen zu Hause aus?
Als unsere Kinder klein waren, habe ich zu Hause die Betreuungsarbeit geleistet und wir haben vom Lohn meines Mannes gelebt. Wir hätten uns auch anders entscheiden können. Ich habe damals auf einer Bank gearbeitet und genug verdient für die Familie. Heute machen wir die Arbeit zu Hause gemeinsam. Ich mähe keinen Rasen und mein Mann bügelt nicht. Den Rest teilen wir uns.

Der Frauenstreik und der Frauenkirchenstreik 2019 sind Geschichte, doch der Schwung der Mobilisation soll nicht einfach ungenutzt verpuffen. Im Interview geben Susanne Andrea Birke von der Römisch-Kahtolischen Landeskirche Aargau und Vroni Peterhans vom Schweizerischen Katholischen Frauenbund SKF einen Ausblick auf geplante Initiativen. | © Anne Burgmer

Noch ein Wort zum Frauenhaus Aargau-Solothurn.
Ich finde die Forderung für den Schutz aller Menschen vor häuslicher Gewalt sehr wichtig. Es braucht Massnahmen, die gewährleisten, dass die Täterinnen und Täter nicht davonkommen. Es brauch zudem Schutzplätze für Gewaltbetroffene. Im Kanton Aargau gibt es dahingehend eine grosse Ungerechtigkeit: das Frauenhaus Aargau-Solothurn bekommt vom Kanton keinen Sockelbeitrag und ist deswegen von den erbrachten Leistungen abhängig. Das finde ich unverständlich. Wenn das Frauenhaus nicht ausgelastet ist, was ja eigentlich wünschenswert ist, dann macht der Betrieb Defizit. Der Betrieb ist darum auch von Spenden abhängig. Der AKF berücksichtigt das Frauenhaus regelmässig mit seinen Zuwendungen. Zeitgemäss wäre es, wenn der Kanton das Frauenhaus finanziell tragen würde. Der Kanton ist auf diese Institution angewiesen und brüstet sich immer wieder gerne mit ihr.

*Pia Viel ist seit 2020 Präsidentin von Die Mitte Region Baden. Sie präsidiert auch den Aargauischen Katholischen Frauenbund und den kantonalen Dachverband Tagesstrukturen. Pia Viel lebt mit ihrem Mann in Ehrendingen, wo sie bis 2013 Präsidentin der Schulpflege war. Pia Viel setzt sich für die Frauenordination in der katholischen Kirche ein.


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