25.05.2022

RKZ-Generalsekretär Daniel Kosch zum dualen System der Schweiz
«Die Seelsorge steht im Dienst der Menschen»

Von Christian Breitschmid

  • Wenn die pastorale und die staatskirchenrechtliche Seite der Kirche in Streit geraten, wie jüngst wieder in Gebenstorf-Turgi oder in Bad Zurzach, dann taucht schnell einmal die Frage auf, ob solche Probleme nicht systemimmanent sind.
  • Horizonte hat aus diesem Grund bei Vertretern beider Seiten des sogenannten dualen Systems nachgefragt, wie sie das Konfliktpotenzial dieser weltweit einzigartigen Schweizer Kirchenstruktur einschätzen.
  • Im fünften und letzten Teil dieser Reihe erklärt der langjährige Generalsekretär der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz, Daniel Kosch, was für das duale System spricht.

Aufgrund der Vorkommnisse in Gebenstorf-Turgi und in Bad Zurzach, nicht zuletzt wegen der vielen Stimmen, die den Grund für die teilweise unchristlich geführten Grabenkämpfe der jeweiligen Parteien im dualen System verorten, hat Horizonte auch bei Daniel Kosch, dem Generalsekretär der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz (RKZ), nachgefragt, worin denn nun die Chancen und Risiken eben dieses Systems beständen.

Wenig verwunderlich, dass der promovierte Theologe, der seit 21 Jahren im Zusammenschluss der kantonalkirchlichen Organisationen eine zentrale Rolle einnimmt, zuerst die Vorteile des dualen Systems würdigt: «Ein grosser Vorteil sind sicher die Partizipationsmöglichkeiten, die Möglichkeiten der Laien, Mitverantwortung zu übernehmen und dadurch die Seelsorger von Aufgaben zu entlasten, die nicht zum innersten Kern ihres Aufgabenbereichs gehören, etwa wenn es um Geld geht, um Administration, um Anstellungsverhältnisse und so weiter. Ein zweiter Vorteil des dualen Systems, so wie wir es in der Schweiz kennen, ist der Föderalismus. Das heisst, was sich ganz unten an der Basis, vor Ort ereignet, das wird auch vor Ort entschieden. Die Beteiligten entscheiden selber. Es gibt keine zentralistischen Entscheidungsstrukturen. Kirchlich gesprochen nennt sich das Subsidiarität.»

Machtspiele und -streitigkeiten

Allerdings, räumt Kosch ein, kann die Trennung der Zuständigkeiten, die das duale System kennzeichnen, auch zu Reibungen führen: «Die Aufgaben werden ja nicht einfach geteilt, wie man einen Kuchen teilt, so dass jeder exakt seine Hälfte hat.» Durch die Überlappung der Aufgaben könne es dazu kommen, dass jemand diese Situation als Machtspiel auffasse und versuche, aus seiner Macht heraus Einfluss zu nehmen. «Wenn dann die einen sagen: ‹Wir haben die pastorale Macht› und die anderen: ‹Wir haben die Finanzmacht›, dann wird das sehr schwierig.»

Zu den eingangs erwähnten Querelen in Bad Zurzach und Gebenstorf-Turgi nimmt der RKZ-Generalsekretär nicht Stellung, aber er erklärt, dass es bei Konflikten im dualen System neben Machtstreitigkeiten auch noch eine tiefere Ebene gebe: «Dabei geht es um unterschiedliche Vorstellungen darüber, wohin sich die Kirche bewegen soll. Wenn man sich nicht verständigen kann, dann versucht jeder mit seinen Mitteln, seine Ziele durchzusetzen.» Und hier kämen dann die zwei unterschiedlichen Rechtssysteme ins Spiel, die in der Schweizer Kirchenstruktur gelten: das Kirchenrecht und das Staatskirchenrecht. «Diese beiden Systeme koexistieren. Sie sind zwar in der Praxis aufeinander bezogen, aber sie bilden nicht ein Recht, sondern es sind zwei verschiedene, die auch einer unterschiedlichen Logik folgen.»

Bei manchen Priestern und Seelsorgenden, die aus anderen Kulturkreisen stammen, merke man, dass ihnen das Grundverständnis für das schweizerische System mit seinem Staatskirchenrecht fehle und sie Schwierigkeiten hätten, sich darin zurechtzufinden, sagt Kosch. «Es gibt aber auch staatskirchenrechtliche Behörden, denen dieser Hintergrund fehlt, die nicht wissen, woher dieses Recht stammt. Die bekunden dann auch Mühe damit, es richtig zu interpretieren.»

Auch mit wenigen funktioniert’s

Wegen des Priester- und Seelsorgermangels ist die Schweiz aber zunehmend auf pastorales Personal aus dem Ausland angewiesen. Der Schweizer Kirche laufen gleichzeitig immer mehr Schäfchen davon und entziehen sich durch den Kirchenaustritt ihrer steuerlichen Verpflichtungen gegenüber der Kirche. Lässt sich angesichts dieser Umstände der kirchenstrukturelle Sonderfall Schweiz überhaupt noch guten Gewissens aufrechterhalten? «Ja», sagt Daniel Kosch, «denn der grosse Vorteil dieses Systems ist es ja, dass die Mitglieder der Glaubensgemeinschaften diese Körperschaften bilden und nicht etwa der Staat oder die ganze Bevölkerung. Das bedeutet, dass auch relativ kleine Gruppierungen von diesen Strukturen profitieren können. Ein schönes Beispiel dafür sind, gerade im Kanton Aargau oder in Solothurn, die Christkatholiken. Sie waren schon immer eine kleine Minderheit, aber dank des Schweizer Systems funktioniert das trotzdem sehr gut.»

Also entstehen Probleme mit dem dualen System nicht primär, weil die Mitgliederzahlen schwinden, sondern, so Kosch, weil durch die steigende Zahl von kirchendistanzierten oder nicht religiös sozialisierten Menschen, die sich an diesem System beteiligen, das Verständnis dafür, worum es eigentlich geht, nicht mehr gross genug sei. «Ich habe es schon oft erlebt, dass Leute, etwa aus der Wirtschaft, kamen und sagten: ‹Also in der Wirtschaft läuft das so und so…› Aber die Wirtschaft hat andere Ziele und folgt anderen Gesetzen. Wirtschaftliche Betriebe sind nicht synodal aufgebaut. Allenfalls hat da die Mitarbeitermitwirkung zum Ziel, das Unternehmen zu verbessern, aber nicht im Sinne unseres Volk-Gottes-Verständnisses, bei dem es heisst: Wir alle tragen das mit.»

Beteilige man sich mit diesem unternehmerischen Ansatz zum Beispiel in einer Kirchenbehörde, dann sei man leicht versucht zu denken, die Seelsorgenden – insbesondere, wenn es sich um Laien handelt – seien einfach unterstellte Mitarbeitende, die Weisungen zu befolgen hätten. Die Kirchenbehörde wäre dann so etwas wie der Verwaltungsrat. Dieses Verständnis entspreche aber nicht dem Konzept des dualen Systems, das auf dem Zusammenspiel von pastoral und staatskirchenrechtlich Verantwortlichen beruhe.

Zusammenraufen und Lösungen finden

Dem gegenüber stehe aber auch das, was Papst Franziskus als «Klerikalismus» kritisiere: Ein Selbstverständnis von Amtsträgern, die meinten, qua Amt hätten sie grundsätzlich eine Überlegenheit bezüglich der Frage wie es weiter gehen soll in der Kirche und wie zu entscheiden sei. «Dabei übersehen sie, schon rein soziologisch, dass diese Gemeinden und Pfarreien seit Jahrhunderten bestehen, und alle paar Jahre oder Jahrzehnte kommen neue Seelsorger. Wenn man die Erwartung hat, eine Gemeinde müsse einfach das tun, was sich die Seelsorger unter Kirche vorstellen, dann verkehrt man eigentlich das Verständnis, denn die Seelsorge steht im Dienst der Menschen.»

Trotz dieser Konflikte, betont Kosch zum Schluss, dürfe man die Proportionen nicht verlieren: «Wenn man sich vorstellt, dass es in der Schweiz etwa 1500 Kirchgemeinden gibt und X Pastoralräume und so weiter, dann darf man schon sagen, dass dieses Zusammenspiel im Grossen und Ganzen gelingt. Es ist mit den Problemen behaftet, die jedes Zusammenspiel hat. In jeder Organisationsform gibt es Spannungen. Aber das duale System ist nicht so angelegt, dass es nicht funktionieren kann. Es ist allerdings dann, wenn sich eine Situation schon stark zugespitzt hat, relativ schwierig, zur Deeskalation zu kommen, ohne Personen auswechseln zu müssen. Aber das ist in einem Wirtschaftsbetrieb auch so. Wenn der Verwaltungsrat und der Direktor zusammen nicht funktionieren, dann heisst es ja auch: ‹Wegen unterschiedlicher Vorstellung die Strategie betreffend, haben wir uns im gegenseitigen Einvernehmen getrennt.› Diese Notwendigkeit, zu einvernehmlichen Lösungen zu kommen, ist auch eine Stärke unseres Systems. Es geht davon aus, dass sich die Leute zusammenraufen und miteinander Lösungen finden – und dass sie auch irgendwie zusammenpassen.»

Das Zusammenspiel für alle

«Das duale System in der katholischen Kirche der Schweiz ist einzigartig und voller Chancen», schreibt die RKZ auf ihrer Webseite unter dem Titel «Auf das Zusammenspiel kommt es an». Sie hat unter diesem Titel auch ein eigenes Kartenspiel entwickelt und produziert, das dazu einlädt, sich diesem Zusammenspiel für einmal mit anderem Blick zu nähern. Ein Seelsorger, der in seiner Predigt politisiert? Neue Möbel statt einer neuen Stelle für die Seniorenpastoral? Meditieren statt beten im Religionsunterricht? – In den Pfarreien und Kirchgemeinden stellen sich immer wieder Fragen, die zu Spannungen führen können. Weil, vereinfacht ausgedrückt, Pfarrer und Gemeindeleitung für die Seelsorge verantwortlich sind, Kirchenrat und Kirchgemeinde aber das Geld dafür sprechen müssen. «Da gilt es, abzuwägen und einen klugen Ausgleich zu finden», empfiehlt die RKZ. Mit Hilfe dieses Spiels kann man den respektvollen Umgang im und mit dem dualen System unterhaltsam einüben. Bestellen kann man es direkt über die Webseite der RKZ.


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