14.02.2022

Reportage vom Einsatz als freiwillige Helferin
Eine Nacht in der Notschlafstelle

Von Susanne Muth

  • Seit dem Herbst 2019 ist in Baden die einzige Aargauer Notschlafstelle in Betrieb. Zur Zeit ist beim Kanton ein Postulat hängig, das die Finanzierung längerfristig sicherstellen soll.
  • Susanne Muth ist Leiterin der Fachstelle Diakonie der Römisch-Katholischen Kirche im Aargau und Präsidentin des Vereins Notschlafstelle.
  • Als freiwillige Helferin war sie eine Nacht lang vor Ort im Einsatz.

Als ich an einem Abend im Spätherbst in Baden aus dem Zug steige, ist es bereits dunkel. Mein Ziel ist die Notschlafstelle in der Oberen Halde. Vom Kirchplatz führt eine Treppe im Dunkel steil nach unten. Dann links um das alte Haus herum und ich bin da. Es ist ein kühler Abend, ich bin froh über meine warme Kleidung. 

Es ist 19.30 Uhr. Ich läute an der Eingangstür. Zuerst passiert nichts. Ich läute nochmals und im zweiten Stock öffnet sich ein Fenster. Susi Horvath ruft: «Wir öffnen erst um 20 Uhr!» «Ich bin es!» rufe ich zurück. «Oh, du bist es! Warte, ich komme», schallt es zurück.

Der Einsatz von Freiwilligen ist unverzichtbar

Susanne Muth leitet die Fachstelle Diakonie der Römisch-Katholischen Kirche im Aargau. | Foto: Felix Wey
Susi Horvath leitet die Notschlafstelle, seit diese im September 2019 eröffnet wurde. Ich hingegen bin ziemlich «frisch» im Geschäft. Erst kurz vor meinem ersten Einsatz in der Notschlafstelle habe ich das Präsidium des Vereins übernommen. Susi lässt mich herein. «Ich hatte dich ganz vergessen», gesteht sie. Eine Freiwillige ist bereits da. Sie bereitet oben in der Küche den Znacht für die Gäste vor, die zwischen 20 und 23 Uhr hereingelassen werden. Später Eintreffende werden nur in Ausnahmefällen aufgenommen. Sonst kommen die Gäste, die Freiwilligen und Mitarbeitenden nie zur Ruhe.

Im Mitarbeiterzimmer steht ein Computer für die administrativen Arbeiten. Der Schlafbereich für Angestellte und freiwillige Helfer ist mit einem Vorhang abgetrennt. Nur durch das grosse Engagement zuverlässiger Freiwilliger ist der Betrieb der Notschlafstelle möglich.

Znacht, Zmorge, ein Bett und frische Wäsche

Teamleiterin Susi Horvath arbeitet seit der Eröffnung für die Notschlafstelle. | © Roger Wehrli
Als um 20 Uhr die ersten Gäste vor der Türe stehen, sind wir bereit. Susi öffnet im Erdgeschoss die Türe. «Hallo! Hattest du einen guten Tag?» Wer in der Notschlafstelle übernachtet, bezahlt einen symbolischen Beitrag von fünf Franken. Manch einer hat noch etwas Wäsche, die er gewaschen haben möchte. Pro Person gibt es dafür eine Plastikbox, in der die Wäsche deponiert wird. Susi und die Freiwilligen waschen und trocknen die Wäsche noch am Abend. Am nächsten Morgen wartet die Box mit der frischen Wäsche vor der Zimmertüre.

In dieser Nacht sind acht Männer zu Gast. Sechs von ihnen sind sicher unter 30 Jahren alt. Die Stimmung ist recht entspannt, man kennt sich. Einer der jüngeren Männer möchte nach dem Abendessen auf einem Computer mit den anderen einen Film schauen. Wir gehen mit einem anderen jungen Mann in den Keller. Er hat keine frischen Kleider mehr. In der Kleiderkammer, in der auch die Waschmaschinen stehen, findet er beglückt ein paar neue alte Sachen. Anschliessend falten wir noch etwas Wäsche zusammen, Susi macht einige Einträge am PC und ich helfe oben in der Küche. Ein Gast, der sich nicht an die Regeln halten kann, kommt erst nach 23 Uhr. Er bekommt ein Timeout, was bedeutet, dass er die nächste Nacht nicht kommen darf. Manchmal wirkt das. Oft nicht.

Es ist ein langer Abend, aber ungewöhnlich ruhig, wie ich erfahre. Um 00.30 Uhr falle ich todmüde ins Bett. Einmal erwache ich. Über uns läuft ein Gast hektisch im Zimmer hin und her. Das ist aber auch alles. Ich kann noch einmal einschlafen, bevor wir um 6 Uhr aufstehen.

Schicksale und Träume

Susi holt frisches Brot – manchmal bringt das auch ein freundlicher Nachbar – ich koche Kaffee und decke den Tisch. Die Gäste dürfen am Wochenende bis 9 Uhr bleiben, Frühstück gibt es bis 8.30 Uhr.

Die Gäste sind aufgeschlossen, unterhalten sich miteinander, beziehen mich ins Gespräch ein. Die schwierigen Geschichten kommen nicht so direkt auf den Tisch, doch zwischen den Zeilen kann man sie hören. Ein junger Mann, knapp 20, zeigt das Bild seiner zwei Kinder, das er im Geldbeutel dabeihat. Einer träumt davon, den Pilotenschein zu machen. Er habe sich schon zur Prüfung angemeldet. Ich bin irritiert, sage aber nichts. Susi zeigt mir später den neuen, teuren Motorradhelm, den er sich neulich kaufte, weil er unbedingt Motorrad fahren möchte. Einen Führerschein hat er nicht.

Finanzierung sicherstellen

Die einzige Notschlafstelle im Kanton Aargau ist eine kurzfristige Möglichkeit für Menschen, die aus unterschiedlichsten Gründen gerade keine andere Lösung finden. Das christliche Sozialwerk HOPE betreibt sie seit September 2019 im Auftrag des Vereins Notschlafstelle. Gemäss Sozialhilfegesetz wären die Gemeinden für die Notunterbringung von Betroffenen zuständig. Das funktioniert aber häufig nicht, auch deswegen, weil die Personen nicht immer einer Gemeinde zugeordnet werden können. Wie die Aargauer Zeitung im Dezember 2021 berichtete, prüft der Kanton zur Zeit ein Postulat, das zum Ziel hat, die Finanzierung der Notschlafstelle über den Kanton zu sichern. Momentan tragen die beiden grossen Landeskirchen den Hauptteil der Finanzierung und der Verein Notschlafstelle ist auf Spenden angewiesen.


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