07.10.2023

Viel Protest nach der Veröffentlichung der Missbrauchsstudie
«Schreibt dem Bischof einen Brief»

Von Eva Meienberg

  • Nach der Veröffentlichung der Pilotstudie zum Missbrauch sind die Menschen erschüttert und wütend.
  • Viele wollen ein Zeichen setzen.
  • Die Römisch-Katholische Kirche im Aargau rät von Einzelaktionen ab und zu konstruktiver Kritik.

Tatjana Disteli, Generalsekretärin der Römisch-Katholischen Kirche im Aargau, erhält derzeit viele Anrufe von Behördenmitgliedern und kirchlichen Mitarbeitenden. Nach der Veröffentlichung der Pilotstudie zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche Schweiz müssen nicht nur die Bischöfe Rede und Antwort stehen für die Verfehlungen in der Kirche. Auch die Seelsorgenden und Pfarreisekretärinnen, bis hin zu den Freiwilligen in den Pfarreien und in der Spezialseelsorge werden damit konfrontiert. Neben dem unsäglichen Leid, das die Betroffenen sexuellen Missbrauchs erlebten, stelle die Veröffentlichung der Studie auch für die kirchlich engagierten Menschen eine grosse Belastung dar, sagt Tatjana Disteli. «Viele von ihnen setzen sich seit Jahrzehnten für Reformen ein und stehen nun unter Generalverdacht.»

Beiträge ans Bistum einfrieren

Die Generalsekretärin der Landeskirche versteht darum den Wunsch, gegen die Ohnmacht ein starkes Zeichen zu setzen und den Reformforderungen lautstark und öffentlichkeitswirksam Ausdruck zu verleihen. Die Kirchgemeinde Adligenswil etwa hat am 21. September angekündigt, die Zahlungen an das Bistum auf ein Sperrkonto einzuzahlen. Der Luzerner Kirchgemeinde folgten sechs weitere.

Tatjana Disteli, Generalsekretärin der Römisch-Katholischen Kirche im Aargau | Foto: Felix Wey

Die protestierenden Kirchgemeinden fordern eine unabhängige Untersuchung der Bistümer, eine unabhängige Meldestelle für Missbrauchsopfer und den Verzicht auf Aktenvernichtung im Zusammenhang mit den Missbrauchsfällen. Zudem soll das Archiv des päpstlichen Nuntius, Martin Krebs, für die Recherchen der Forschenden geöffnet werden.

Inserat in der Tageszeitung

In St. Gallen begann der öffentlichkeitswirksame Protest bereits am 16. September mit einem Inserat im St. Galler Tagblatt. «So nicht!» lautete der Titel des ganzseitigen Inserates, das von 107 kirchlichen Mitarbeitenden unterzeichnet worden war. Unterdessen hat sich die Liste auf der Webseite der Protestierenden auf mehr als 2300 Personen verlängert.

Die St. Galler Reformvorstösse betreffen die Machtfrage, die Sexualmoral, das Priesterbild, die Rolle der Frauen und die Ausbildungs- und Personalpolitik der Kirche. Konstruktive und machbare Schritte schlagen die Protestierenden vor, welche etwa die Bischofswahl betreffen oder die Begleitung einer Trauung durch eine Seelsorgerin der Wahl. Reformen jetzt unterstütze aber auch die Forderungen der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz (RKZ), der Schweizer Bischofskonferenz und der Ordensgemeinschaften.

Koordination der Proteste

Am Treffen der Projektgemeinschaft Allianz Gleichwürdig Katholisch Ende September sei ebenfalls über Protest auf verschiedenen Ebenden der Kirche diskutiert worden, sagt Mentari Baumann, Geschäftsführerin der Allianz. Sie interpretiere die eingefrorenen Beiträge ans Bistum Basel als ein Signal. Die Kirchgemeinden sollen die Freiheit dazu haben. Aber mittelfristig müssten sie zu einer koordinierten Aktion kommen. Mentari Baumann erwartet gespannt das Ergebnis der Vernehmlassung der RKZ.

Urs Brosi, Generalsekretär der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz | Foto: zVg

Zurzeit äussern sich die Landeskirchen zu den Forderungen der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz. Urs Brosi, Generalsekretär der RKZ, sagte in der Rundschau von SRF am 4. Oktober, bis jetzt erhielten sie Rückmeldungen, dass der Finanzhebel gegenüber den Bischöfen mit Vorsicht einzusetzen sei. Dass also die Mitglieder der RKZ eher davon absehen wollen, den Bischöfen die Gelder zu kürzen, wenn diese nicht auf die Forderungen der RKZ eingehen.

Die Falschen sind betroffen

Aus dem Kanton Aargau sind bislang keine Einzelinitiativen bekannt. Tatjana Disteli rät denn auch davon ab. Die Aargauer Landeskirche habe schnell reagiert und den Kirchgemeinden die Empfehlung abgegeben, «gemeinsam, mit einer starken Stimme und koordiniert mit der RKZ» vorzugehen. Sie sei überzeugt, dass das Einfrieren der Gelder nicht zielführend sei und die Falschen träfe, etwa die Angestellten der Bistümer in den Pastoralabteilungen, die sich auf theologisch fundierter Grundlage für Reformen in der katholischen Kirche einsetzten.

Bischof Felix Gmür im St. Ursen-Saal im bischöflichen Ordinariat in Solothurn. |Foto: Manuela Matt

Den Menschen, die Tatjana Disteli anrufen, rät sie, dem Präsidenten der Schweizer Bischofskonferenz, Bischof Felix Gmür, einen Brief zu schreiben und darin die eigenen Wünsche und Forderungen konstruktiv zu formulieren. So erhalte der Bischof Rückenwind.

Kirchenaustritte vervierfacht

Dem gegenüber steht der leise, aber für die Kirche schwerwiegendere Protest: der Austritt aus der Kirche. Die Austrittszahlen des Monats September sind viermal höher als im Vergleichsmonat vor einem Jahr. 1198 Menschen haben der katholischen Kirche den Rücken gekehrt, viele davon nicht leichtfertig, was aus den Austrittsschreiben ersichtlich ist.

Diese Krise der katholischen Kirche sei die Schwerste seit der Reformation, sagt Tatjana Disteli. Aber sie trage auch das Potenzial zu Umkehr und Neuanfang in sich. «Die Kirche ist seit Jahrzehnten erstmals in Bewegung gekommen, im Vatikan tut sich etwas.» Mit Blick nach Rom, wo in diesen Tagen die synodale Versammlung der Weltbischofssynode tagt, würden aus vielen Ländern dieser Erde dieselben Anliegen adressiert. Jeder Brief an die Schweizer Bischofskonferenz unterstreiche diese Reformanliegen für eine neue glaubwürdige Kirche, ist Tatjana Disteli überzeugt.


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