26.01.2024

Interview mit der Filmemacherin Lisa Gerig.
Wo verletzliche Lebensgeschichten auf harte behördliche Kriterien treffen

Von Eva Meienberg

  • Die Filmemacherin Lisa Gerig engagiert sich seit Jahren im Asylbereich.
  • Mit ihrem ersten Langfilm «Die Anhörung» hat sie das Kernstück des Asylverfahrens scharf analysiert.
  • In einem für die Asylsuchenden existentiellen Moment sind diese ganz besonders den Behördenmitarbeitenden ausgeliefert.
  • «Die Anhörung» hat den «Prix de Soleure» an den diesjährigen Solothurner Filmtagen gewonnen.

Erzählen Sie von Ihrem Engagement im Asylbereich.
Lisa Gerig: Ich habe mit meiner Schwester beim Solinetz Zürich Asylsuchenden Deutschunterricht erteilt. Während mehreren Jahren habe ich ausserdem Menschen im Ausschaffungsgefängnis in Kloten besucht. Der Austausch mit ihnen war für mich von Anfang an sehr bereichernd, weil ich viele Lebensgeschichten gehört habe, die so anders sind als meine eigene. Gleichzeit haben meine Schwester und ich und viele unserer Freunde, die sich ebenfalls im Asylwesen engagieren, realisiert, dass es im Asylwesen viele Missstände gibt im Umgang mit den geflüchteten Menschen. Meine Schwester leitet heute das Solinetz Zürich. Ich versuche mit meiner Filmarbeit einen Beitrag zu einer Verbesserung der Situation zu leisten.

Wieso steht die Anhörung der Asylgründe in Ihrem Film im Fokus?
Die Anhörung ist das Kernelement jedes Asylverfahrens und ein besonders sensibler Moment. Dort treffen die weichen, verletzlichen Lebensgeschichten auf die harten Kriterien und bürokratischen Prozesse der Behörden.

Filmemacherin Lisa Gerig | Foto: zVg

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, eine Anhörung zu inszenieren?
Ich habe in den vielen Gesprächen in Ausschaffungsgefängnissen erfahren, wie existentiell die Anhörung für die Asylsuchenden war. Als Filmemacherin habe ich eine Parallele gesehen zwischen den Erzählungen in den Anhörungen und in den Erzählungen im Film. Ich wollte das existentielle Erzählen auf die Leinwand bringen. Gleichzeitig sollten meine Protagonistinnen eine zeitliche Distanz zu ihrer Anhörung haben, damit die Inszenierung für sie nicht zu belastend ist.

Im Film machen Sie mit der Befragung der SEM-Mitarbeitenden durch die Asylsuchenden deutlich, dass es einen grossen Unterschied macht, wer die Fragen stellt und wer sie beantwortet. Wie beurteilen Sie dieses Verhältnis?
Wer fragt, ist in der Machtposition. In Asylanhörungen ist die Art der Fragen und wie die Fragen gestellt werden, von grösster Bedeutung für den Verlauf der Anhörung, und schliesslich für den Asylentscheid.

Kritisieren Sie die Anhörungen?
An den EU-Aussengrenzen werden anhaltend und mittlerweile systemimmanent Grund- und Freiheitsrechte von Schutzsuchenden untergraben. Vielen Menschen wird die Möglichkeit verwehrt einen Asylantrag zu stellen. Insofern schauen wir, wenn wir die Asylanhörung anschauen, auf ein mittlerweile verteidigungswertes Kernstück eines fairen Asylsystems: Jeder Schutzsuchende muss ausführlich zu seinen Fluchtgründen angehört werden. Umso brisanter ist es, dass sich auch hier, beim genauen Hinschauen, dann Abgründe auftun. Ich will in meinem Film weder moralisieren noch politische Bewertungen abgeben. Als Filmemacherin mache ich auch keine Verbesserungsvorschläge. Es ist die Aufgabe des SEM, die Anhörungen gerecht zu gestalten.

Die SEM-Mitarbeitenden vertreten eine Behörde, wenn sie die Entscheide treffen. Verstecken sie sich hinter ihr?
Die vier SEM-Mitarbeitenden in meinem Film vertreten ein System, das wir als ganze Gesellschaft stützen. Die Organisation des Asylverfahrens ist hoch politisch. Ich finde es mutig von ihnen, dass sie ihr Gesicht zeigen und beim Film mitgemacht haben. Aus der täglichen Praxis wissen sie am besten, wie die Anhörungen fairer gemacht werden könnten. Aber die Realität ist auch, dass die Gestaltung der Asylverfahren von der politischen Stimmung im Land abhängt.

Woraus schöpfen die Menschen, die durch den Asylprozess gehen, Hoffnung?
Das müssten wir sie selber fragen und ist natürlich von Person zu Person unterschiedlich. Aber ich weiss, dass Begegnungen mit Menschen aus der Schweizer Gesellschaft extrem wichtig für viele Asylsuchende sind. Sie möchten aus der gesichtslosen Masse der Asylsuchenden heraustreten und als Individuum wahrgenommen werden mit ihren Wünschen, Träumen, Fähigkeiten und Ängsten. Sie möchten unsere Sprache lernen, arbeiten, um ein Teil unserer Gesellschaft zu sein.

Hier geht es zum Filmtipp

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen? Abonnieren Sie unseren Newsletter. Er erscheint alternierend zur Printausgabe alle zwei Wochen – immer mit den aktuellsten Horizonte-Geschichten und oftmals spannenden Verlosungen.