30.06.2022

Teil 1/3 der Horizonte-Sommerserie 2022 rund um das Thema «Pilgern»
«Das Pilgern hilft mir, nicht an Dingen festzuhalten»

Von Fabrice Müller, chb

  • Er gilt als der «Pilgerpapst» des Kantons Aargau: Bernhard Lindner von der Fachstelle Bildung und Propstei der Römisch-Katholischen Kirche im Aargau.
  • Seit einigen Jahren schon organisiert Lindner Pilgerreisen für erfahrene Pilger aber auch für Einsteiger auf dem Weg mit dem Weg zum Ich.
  • Im Interview mit Horizonte erzählt er, wie er zum Pilger wurde und worauf es beim Pilgern ankommt.

Pilgern liegt im Trend. Das weiss keiner besser als Bernhard Lindner, bei der Fachstelle Bildung und Propstei der Römisch-Katholischen Kirche im Aargau zuständig für die Bereiche Theologiekurse, Pilgern und Organisationsberatung. Der Theologe ist selbst ein leidenschaftlicher Pilger. Er führt auch regelmässige Pilgerreisen auf dem Jakobsweg durch. Dieses Interview, garniert mit weiteren Bildern und Pilgerempfehlungen, lesen Sie auf www.horizonte-aargau.ch.

Herr Lindner, Sie sind Mitte Mai von einer Pilgerreise in Frankreich zurückgekommen. Wie war’s?
Bernhard Lindner: Die Pilgerreise führte uns auf dem französischen Jakobsweg von Limoges nach Périgueux. Der 117 Kilometer lange Teil des Jakobswegs Via Lemovicensis, südlich des französischen Zentralmassivs, ist unter anderem bekannt durch sein mildes Klima und die gute regionale Küche. Ich startete bereits 2018 auf diesem Weg von Vézelay aus, konnte ihn dann aber 2020 wegen Corona nicht fortsetzen. Der Weg ist eine von vier Hauptrouten des Jakobswegs durch Frankreich und wurde bereits im Mittelalter genutzt. Wir waren im Mai mit acht Teilnehmenden unterwegs und haben nur drei Pilger auf unserer Route getroffen. Die Gegend ist einsam und besticht durch ihre unberührte Natur. Und natürlich haben wir hervorragend gegessen.

Sie gelten im Kanton als «der Aargauer Pilgerpapst». Wie sind Sie überhaupt zum Pilger geworden?
Ich habe mich immer gerne bewegt und wandere häufig, auch mit meiner Familie oder früher als junger Mensch. 2000 habe ich mich erstmals mit einer Gruppe erwachsener Firmlinge auf den Jakobsweg gemacht, von Einsiedeln nach Burgdorf. Das hat mich fasziniert. Pilgern ist ein ganz anderes Auf-dem-Weg-Sein. Speziell dieser Weg ist wie ein Gang durch die «Kirchenlandschaft» der Schweiz, vom Kloster Einsiedeln über das Kloster Ingenbohl, das Priesterseminar in Luzern bis ins reformierte Burgdorf. Als ich 2003 meine Stelle bei der Fachstelle Bildung und Propstei antrat, begann ich, meine Leidenschaft fürs Pilgern in Form eines öffentlichen Angebotes aufzubauen – zum Beispiel mit Schnuppertagen auf dem Jakobsweg. Ich möchte die Menschen für das Pilgern und den Jakobsweg begeistern. So war ich ab 2008 mit einer Gruppe auf dem spanischen Jakobsweg unterwegs. In drei Etappen haben wir den Weg innerhalb von drei Jahren bis nach Santiago de Compostela gemeistert. Seitdem bin ich jedes Jahr auf den spanischen Pilgerwegen anzutreffen.

Was fasziniert Sie denn so besonders am Pilgern?
Ich verbinde unterschiedliche Aspekte mit dem Pilgern. Ich verstehe Pilgern als Lebenshaltung. Die Haltung, mit der ein Mensch auf dem Pilgerweg unterwegs ist, ist auch hilfreich für das alltägliche Leben. Ich schätze, was mir im Leben geschenkt wird. Gleichzeitig bin ich mir bewusst, dass ich vieles, was ich als «Gepäck» mit mir herumtrage, nicht mitnehmen kann, wenn meine Zeit auf der Erde abgelaufen ist. Das Pilgern hilft mir, nicht an Dingen festzuhalten und loszulassen. Weiter erlebe ich die Pilgerwege als wanderndes Zeltlager, wo man vielen Pilgern immer wieder begegnet und mit ihnen ins Gespräch kommt. In diesem Sinne steht gerade der Jakobsweg mit seiner grossen Anziehungskraft auch für Völkerverständigung. Ich bin Menschen aus Kanada, Brasilien, Japan und natürlich ganz Europa begegnet. Am Abend isst man dann zusammen an einem Tisch. So stelle ich mir das himmlische Hochzeitsmahl bei Gott vor.

Gab es unter diesen Pilgerkontakten auch solche, die sie noch weiter pflegten?
Ja, die gibt es. Schliesslich ist man längere Zeit miteinander unterwegs und teilt Freud und Leid miteinander. Auch mit den Teilnehmenden meiner Pilgerreisen habe ich regelmässigen Kontakt. Wenn man gemeinsam pilgert, lernt man sich besser kennen. Als Pilgerleiter versuche ich stets, Räume für Gespräche zu öffnen oder den Austausch zu einem bestimmten spirituellen Thema anzuregen. Solche Begegnungen schweissen einen zusammen.

Welche Wirkung geht vom Pilgern aus?
Körperlich wird man fitter und erhält beim Wandern immer mehr Ausdauer. Nach jeder Pilgerreise fühle ich mich recht gut. Das Körperfett wird in Muskelmasse umgewandelt. Zudem stärkt der acht bis zehn Kilogramm schwere Rucksack die Rückenmuskulatur spürbar. Auf der seelisch-geistigen Ebene kehrt eine gewisse Gelassenheit ein. Manchmal läuft es beim Pilgern nicht immer rund; auf der letzten Reise musste jemand wegen eines Blinddarmdurchbruchs ins Spital. Doch ich vertraue darauf, dass es weitergeht. Diese innere Haltung im Glauben, dass Gott mit uns geht, ist sehr wertvoll. Man lernt auch sich selber besser kennen. Mich fasziniert es immer wieder, wie sich meine Gedanken durch das Wandern in der Natur verändern. Dieses Kommen und Gehen hilft mir, Gedanken zu verarbeiten und loszulassen. Gleichzeitig erhalte ich neue Impulse und Ideen.

Wie bereitet man sich am besten auf eine Pilgerwanderung vor?
Die Streckenauswahl hängt von der persönlichen Fitness ab. In der Gruppe kommt man in der Regel etwas langsamer vorwärts, als wenn man alleine wandert. Auf unseren Pilgerreisen legen wir zwischen 22 und 25 Kilometer pro Tag zurück. Beim Packen gilt es, auf gutes Schuhwerk zu achten. So verhindert man Blasen an den Füssen. Ich empfehle, das Tragen des Rucksacks vorher zu üben, ebenso das längere Wandern. Das Gewicht des Rucksacks sollte in etwa zehn Prozenten des Körpergewichts entsprechen. Am besten packt man nur das ein, was man auch wirklich braucht.

Und wie sieht es mit der mentalen Vorbereitung aus?
Dazu gehören Fragen wie: Was erwarte ich von der Pilgerreise? Was wünsche ich mir? Der Aufbruch zu einer mehrtägigen Pilgerreise fällt manchen Menschen schwer. Und manchmal springen Leute, die sich für eine Reise angemeldet haben, im letzten Moment wieder ab. Gründe dafür gibt es genug. Wichtig erscheint mir auch, sich zu überlegen, wie man nach der Pilgerreise wieder in den Alltag zurückkehrt. Schliesslich sollte das Pilgern ja einen gewissen nachhaltigen Effekt haben.

Allein oder in einer Gruppe – wie pilgert man besser?
Das ist ganz von der eigenen Persönlichkeitsstruktur abhängig. Wer alleine pilgert, ist auf sich gestellt. Das kann heilsam sein. Andere hingegen suchen vielleicht Begegnungen und Gespräche. Es gibt Pilgerwege, die sind nur schwach frequentiert. Da kann es dann für einen allein sehr einsam werden. In der Gruppe trägt man sich gegenseitig. Das ist von Vorteil.

Wohin geht Ihre nächste Pilgerreise?
Vom 1. bis 16. Oktober bin ich mit einer Gruppe auf dem Jakobsweg «Caminho Portugés» von Porto nach Santiago de Compostela unterwegs. Von Süden nach Norden führt der Weg entlang der portugiesisch-spanischen Atlantikküste, zunächst sechs Tage in Portugal und dann, ab Tui, fünf Tage in Spanien. Nach insgesamt 248 Kilometern erreichen wir Santiago de Compostela. Dort werden wir vom heiligen Jakobus empfangen, der aufgrund der Pandemie auch 2022 sein «Heiliges Jahr» feiern wird. Wir haben bereits Anmeldungen für diese Gruppe. Für zwei bis drei weitere Teilnehmende hat es aber noch Platz.

Vorschläge zum Pilgern

Schnuppertage Schweizer Jakobsweg
Von Pfäffikon (ZH) nach Einsiedeln führt diese spirituell geführte Wanderung unter der Leitung des Theologen und Lebenspilgers Bernhard Lindner. Reine Wanderzeit: 5 Stunden. Mittagessen aus dem Rucksack. Freitag, 9. September, 6.50 bis 19.17 Uhr. Treffpunkt: Bahnhof Frick. Anmeldung bis 5. September unter bernhard.lindner@kathaargau.ch oder Tel. 079 259 14 30.

Jakobsweg entlang des Hochrheins
Wer die Faszination Jakobsweg einmal in Ruhe während eines Tagesmarschs erleben will, dem sei der Gang über den «Hochrheinweg» empfohlen. Diese spirituell geprägte Wanderung auf dem Schweizer Jakobsweg entlang des Hochrheins führt vom Bad Säckinger Münster durch die Rhein-Aue zur Zähringerstadt Rheinfelden. Informationen zu diesem Pilgerweg finden sich auf der Website des Vereins jakobsweg.ch.

Kolumbansweg durch den Aargau
Der Kolumbansweg durch die Schweiz ist Teil des europäischen Kulturweges Via Columbani. Mit der Via Columbani soll der 8000 Kilometer lange Weg nachgebildet werden, den der irische Mönch Kolumban mit seinen zwölf Gefährten am Ende des sechsten Jahrhunderts von Bangor in Nordirland nach Bobbio in Norditalien gewandert ist. Der Schweizer Weg beginnt in Basel und führt in mehreren Etappen durch Rheinfelden, Laufenburg, Koblenz, Baden, Zürich bis nach Chiavenna in der Lombardei. Informationen unter: www.kolumbansweg.ch.


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