03.07.2023

Das Frauenhaus Aargau-Solothurn besteht seit 40 Jahren
Wenn die Situation zu Hause eskaliert

Von Susanne Muth / Fachstelle Diakonie

  • Das Frauenhaus Aargau-Solothurn ist als Kriseninterventionseinrichtung an 365 Tagen im Jahr für 24 Stunden geöffnet.
  • Es bietet Schutzplätze für zehn Frauen mit und ohne Kinder, die häusliche Gewalt erleben und eine sichere Unterkunft brauchen.
  • Susanne Muth, Fachstellenleiterin Diakonie, ist Vizepräsidentin im Stiftungsrat Frauenhaus. Sie hat ein Gespräch mit drei Frauenhaus-Mitarbeiterinnen geführt.

Sabine H.*, Rita S.* und Corinne L.*, welchen Menschen begegnen Sie im Frauenhaus?
S. H.: Es kommen Frauen aus unterschiedlichen Altersgruppen, Nationalitäten, mit vielfältigem Bildungshintergrund und aus allen Klassen der Gesellschaft. Gemeinsam ist den meisten eine grosse Dankbarkeit darüber, hier sein zu dürfen. Die Diversität der Personen macht die Arbeit sehr spannend, ist aber auch oft eine Herausforderung. Wenn so unterschiedliche Frauen auf engem Raum zusammenleben, birgt das Konfliktpotenzial. Frauen und Kinder machen während ihres Aufenthalts eine Entwicklung durch: Die Kinder sind in den ersten paar Tagen meistens etwas schüchtern, sie können sich dann aber recht schnell öffnen. Bei den Frauen dauert das erfahrungsgemäss länger.

Bevor die Frauen ins Frauenhaus eintreten, wird ein Sicherheitscheck ihres Handys durchgeführt und die SIM-Karte ausgetauscht. | Foto: Manuela Matt

Wie läuft die Aufnahme ins Frauenhaus ab?
S. H.: Wenn eine betroffene Frau anruft, klären wir zunächst die Situation ab. Sind die Krite­rien für eine Aufnahme ins Frauenhaus erfüllt und haben wir noch einen freien Platz? Sollte beides zutreffen, machen wir mit ihr einen Treffpunkt ab, an dem wir sie abholen. Zu ihrer Sicherheit schalten wir die Ortungsdienste der elektronischen Geräte aus, wechseln die SIM-Karten aus, stellen die Handys ab und bringen die Frauen dann ins Frauenhaus. Ausserdem wird anschliessend ein genereller Sicherheitscheck der Handys durchgeführt.

Wie geht es weiter, wenn die Frauen in Sicherheit sind?
C. L.: Frauen und Kinder haben Gewalterfahrungen gemacht und sind in ihrer Existenz erschüttert. Die erste Phase des Aufenthalts hat bei den Frauen und Kindern das Ziel, den Betroffenen Zeit zu geben, sich einzuleben, und ihnen Sicherheit zu vermitteln. Es ist wichtig, dass die Frauen offen mit uns sprechen, auch dann, wenn es aus irgendwelchen Gründen wieder zu Kontakt mit dem ge­walt­ausübenden Partner kommt.

Serie Diakonie, Teil 4: Frauenhaus Aargau-Solothurn

Das Frauenhaus Aargau-Solothurn wird dieses Jahr 40 Jahre alt und ist aktuell subjektfinanziert. Das bedeutet, dass der Kanton nur diejenigen Betten bezahlt, die belegt sind. Für eine Umsetzung der Istanbul-Konvention gegen geschlechtsspezifische Gewalt bräuchte es eine Objektfinanzierung unabhängig von der Belegung oder einen Sockelbeitrag.

Die Fachstelle Diakonie der Katholischen Landeskirche Aargau setzt sich dafür ein, dass Solidarität in der Kirche gelebt und praktiziert wird. Mit einer Artikelserie zur Diakonie macht sie das diakonische Schaffen in der Kirche, in Vereinen und sozialen Institutionen sichtbar. | www.kathaargau.ch/diakonie

R. S.: Die Kinder sind immer von der Gewalt mit betroffen, auch wenn die Mütter manchmal denken, sie hätten nichts mitbekommen. Wir müssen herausspüren, wie stark sie betroffen sind, um sie dann an entsprechende Stellen weiterzuvermitteln und mit den Kindern das Erlebte aufzuarbeiten.

C. L.: Mit den Frauen muss man klären, wie die aktuelle Situation ist und was sie eigentlich wollen. Manche wissen das schon ganz genau, andere gar nicht. Es braucht viel Aufklärungsarbeit auch darüber, welche Konsequenz welche Entscheidung hat, zum Beispiel, wenn man eine Anzeige erstattet oder eben nicht.

R. S.: Kinder in gewaltbetroffenen Familien müssen im Alltag oft Verantwortung übernehmen. Die Mütter sind dazu teilweise nicht mehr in der Lage, wenn die Situation eskaliert. Wenn die Kinder bei uns sind, müssen sie erst wieder lernen, Kind sein zu dürfen.

R. S.: Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer der Frauen im Frauenhaus lag im vergangenen Jahr zwischen 32 und 35 Tagen. Es gibt Kurzaufenthalterinnen, die nur zwei, drei Nächte bleiben, manche Frauen bleiben vier Monate. Sehr selten bleiben die Frauen länger. Die Kurzaufenthalterinnen sind etwas seltener als die Frauen, die länger bleiben, kommen aber auch häufig vor. Meistens finden sie eine andere Lösung, kommen etwa bei Verwandten oder Freunden unter. Die meisten Frauen, die länger im Frauenhaus bleiben, suchen nach ein paar Wochen oder Monaten eine neue Wohnung. Es gibt Frauen, die nicht so schnell eine neue Unterkunft finden und eine Zwischenlösung finden müssen. Manchmal geht eine Frau auch in eine Mutter-Kind-Einrichtung oder ein betreutes Wohnen und manche Frauen gehen wieder zu ihrem Partner zurück.

Was motiviert Sie für diese anspruchsvolle Arbeit?
R. S.: Die Kinder gehen in dieser Situation oft vergessen. Ich setze mich dafür ein, dass auch sie gesehen und gehört werden. Sie sind immer Teil der Thematik. Wir bieten den Kindern hier einen Ort, an dem sie Sicherheit und Geborgenheit erleben dürfen.


SOS-24-Stunden-Helpline

Sie erleben Gewalt in der Ehe oder Partnerschaft? Unter der Nummer 062 823 86 00 bekommen Sie rund um die Uhr Hilfe.

S. H.: Ich unterstütze Menschen gerne in ihrer Entwicklung. Auch wenn die Arbeit oft herausfordernd ist, gibt sie mir Energie. Es ist mir ausserdem wichtig, dazu beizutragen, dass Gewalt in der Gesellschaft besser wahrgenommen wird. Es braucht Bewusstseinsarbeit und eine Definition des Gewaltverständnisses.

C. L.: Es muss Frauenhäuser geben und Menschen, die diese Arbeit machen. Neben der Unterstützung der Betroffenen müssen wir auf gesellschaftlicher Ebene daran arbeiten, dass Gewalt weniger oder am besten gar nicht mehr passiert. Für mich hat diese Arbeit auch etwas mit einem politischen Befreiungskampf zu tun. Wir brauchen Strukturen, die uns dabei unterstützen, dass wir sicher leben können. Dazu muss die Gesellschaft hinschauen. Die gesellschaftliche Situation ist ein Nährboden für Gewalt an Frauen. Sonst könnte sie nicht in diesem Ausmass stattfinden.

Welche Erfahrungen machen Ihnen zu schaffen und wie gehen Sie damit um?
R. S.: Die Schicksale sind schwierig. Aber man gewöhnt sich auch daran. Trotzdem gibt es immer wieder Vorfälle, die mich stärker berühren. Wenn wir Gefährdungsmeldungen machen müssen, um die Kinder zu schützen, ist das sehr schwer. Oder wenn es einer Mutter so schlecht geht, dass sie in eine psychiatrische Institution gehen muss. Dann müssen wir die Kinder fremdplatzieren. Wenn ich als einzige Bezugsperson diese Kinder in einem Kinderheim zurücklassen muss oder wenn ein Kind sexuelle Ausbeutung erlebt hat, das sind die schlimmsten Momente für mich. In der Arbeit hilft mir der institutionalisierte Austausch. Das Team ist wertschätzend und unterstützend. Privat hilft mir vor allem Bewegung, um abzuschalten.

S. H.: Manche Situationen sind sehr schwierig. Einmal ist mir nach meinem Dienst ein Kind nachgelaufen. Es schaute zwischen den Stäben des Gartenzaunes durch, als ich ging, und rief mir nach: «Wir sehen uns.» Wie es da so eingesperrt stand, berührte mich zutiefst. Ich verarbeite vieles durch Lesen und Schreiben. Bewegung in der Natur tut mir auch gut. Manchmal denke ich dann an die Frauen bei uns, die nicht aus dem Haus gehen können. Es ist so wichtig, dass man draussen unterwegs sein und sich ablenken kann.

C. L.: Ganz schlimm sind die Situationen, wenn eine Frau sich aufgrund ihres Aufenthaltsstatus entscheidet, wieder zum Partner zurückzugehen, obwohl sie eigentlich nicht möchte. Wenn die Angst vor der Ausschaffung der Grund dafür ist, sich massiver, zum Teil lebensbedrohlicher Gewalt auszusetzen, bringt mich das an meine Grenze. Das kommt immer wieder vor. Ich gehe regelmässig zur Therapie und habe ein lebendiges Umfeld, das mir zeigt, dass das Leben auch ausserhalb der Arbeit stattfindet. Da bin ich gut aufgehoben.

* Die Namen der Mitarbeiterinnen wurden geändert, um die Anonymität des Frauenhauses zu schützen.


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