03.08.2017

Ein Beichtstuhl als Notausgang

Von Anne Burgmer

An heissen Sommertagen kann der Besuch in einer der schönsten Aargauer Betonkirchen für Architekturinteressierte zu einem richtig coolen Erlebnis werden. Horizonte machte die Probe aufs Exempel und liess sich ausgewählte Schmuckstücke vom leitenden Denkmalpfleger Reto Nussbaumer zeigen – in dieser Folge die Kirche St. Anton in Wettingen, in der ein funktionaler Beichtstuhl unfreiwillig komisch daher kommt.

In der Antoniusstrasse in Wettingen, einer Sackgasse mit schmalem Fussweg Richtung Zentralstrasse am Ende, blitzt rechter Hand ein Gebäude durch die Büsche: Die Kirche Sankt Anton. Erst beim Rechtsabbiegen an der Zentralstrasse, wenn der schlanke und hohe Glockenturm in den Blick kommt, zeigt sich das Gebäude vollständig und weckt die Neugierde auf einen Blick ins Innere.

Wie eine Bühne ohne Vorhang

Entworfen wurde die Kirche vom Architekten Karl Higi. Ein Architekt, der, so wird Reto Nussbaumer später im Gespräch bemerken, «vielleicht bisher zu wenig gewürdigt wurde».Sankt Anton ist unglaublich hoch und wirkt noch höher, weil das Vordach des Kirchgebäudes durch extrem schlanke Säulen getragen wird. «Architektonisch kann man Sankt Anton Wettingen als das Verbindungsglied zwischen Peter und Paul Aarau von 1940 und der Heiliggeist-Kirche in Suhr aus dem Jahr 1961 bezeichnen», ordnet Reto Nussbaumer den Kirchenbau ein.

Die Höhe und die schlanken Säulen beeindrucken auch innen. Den Kopf in den Nacken gelegt, sieht man eine Kassettendecke, deren einzelne Felder in verschiedenen Rottönen ausgemalt sind. Geht man dem Mittelgang in Richtung Chorraum entlang, verschwindet die Decke fast aus dem Bewusstsein, so hoch über dem Kopf schwebt sie – eher, als dass sie auf den Säulen ruht. Ein weiterer Eindruck: Je näher man dem Chorraum kommt, desto mehr erinnert der Aufbau mit dem schmalen Bogen im Aufgang zum Altarraum an eine Bühne; allein der rote Vorhang fehlt.

Bildskandal verzögert Einweihung

Im Hintergrund des Altarraumes ist eine angedeutete Apsis. Der Rahmen ist reich bemalt, ein Bildteppich im oberen Teil zeigt den Patron der Kirche und eine Abendmahlsszene. «Die Gestaltung dieser Apsis war der Grund für die etwas verzögerte Einweihung der Kirche. Der Künstler, Ferdinand Gehr, hatte die Ausmalung besorgt. Diese passte dem Bischof – einmal mehr Ferdinand Streng – nicht», erzählt Reto Nussbaumer schmunzelnd. Erst als das Bild, abstrakt dargestellte Engel, durch einen Vorhang verdeckt werden konnte, wurde die Kirche am 18. Juli 1954 eingeweiht. Später, 1960, wurden dann sechs Wandteppiche mit verschiedenen Motiven des Kirchenjahres von insgesamt vier Künstlern gestaltet. Diese Lösung der Apsisgestaltung ist bis heute in Gebrauch.

Die Konstruktion der Kirche wirkt trotz des modernen Baustoffs, der ungewöhnlichen Proportionen und der eigenwilligen Gestaltung vertraut. Reto Nussbaumer löst dieses Rätsel in einem Satz: «Sankt Anton schafft die überzeugende Verbindung zwischen traditionellem Grundriss und zeitgenössischem Aufriss». Reto Nussbaumer zeigt, was er meint: Der Bau ist dreischiffig, auch wenn die Seitenschiffe nur denkbar schmal über die Säulen und die Decke vom Hauptschiff abgesetzt sind. Der Raum ist unterteilt in Joche, wie man es aus romanischen oder gotischen Kirchen kennt. Gleichzeitig  ist es eine moderne Kirche – nicht nur durch den Baustoff, sondern auch durch die Fenster und die Einrichtung. Bis in die Beichtstühle hinein ist die Ausstattung fast ursprünglich erhalten.

«Dreck» färbt Kirchen schwarz

Sankt Anton wirkt in sich stimmig. Bei der  Neugestaltung des Vorplatzes wurde darauf geachtet, dass die ursprüngliche Bodengestaltung unter dem Vordach aufgegriffen wurde. Die Ausmalung im Inneren ist durch wenige Künstler gemacht worden. Ferdinand Gehr «zerstörte» selbst sein ursprüngliches Bild, als er die Apsis übermalte und die Apsis-Rahmung mit Blick auf die sechs Wandteppiche neu gestaltete. Er lieferte auch gleich einen Entwurf für einen Wandteppich. Deckenausmalung, Kreuzweg und ebenfalls ein Wandteppich stammen aus der Hand von Armin Brugisser. Ein weiterer wurde von Willi Helbling und insgesamt drei von Hans Stocker entworfen. Mit Armin Brugisser und Willie Helbling waren zwei Aargauer Künstler am Werk, der Basler Hans Stocker gilt als Pionier der modernen schweizerischen sakralen Glasmalerei. Diese Achtsamkeit in den Neugestaltungen führt zur grossen Ruhe, die Sankt Anton ausstrahlt.

«Zu dem frischen und schönen Gesamteindruck trägt bei», so erklärt Reto Nussbaumer zudem, «dass die Kirche gereinigt wurde. Der Schmutz, der sich im Laufe der Zeit ablagert, weil die Heizungsanlagen Staub und andere Partikel an den kühlen Wänden absetzen, wurde vor anderthalb Jahren entfernt». Es sei übrigens, so räumt er einen verbreiteten Irrtum aus, nicht nur der Russ von Kerzen, sondern tatsächlich ordinärer «Dreck», der die Kirchgewölbe schwarz färbe. «In jeder Kirche mit irgendeiner Form von Heizungsanlage kennen wir dieses Problem», ergänzt er.

Unfreiwillig komisch?

An anderer Stelle ist Sankt Anton ein weiteres gutes Beispiel dafür, wie mit Findigkeit harmonische Lösungen für die Verbindung von ursprünglicher Nutzung und neuen Anforderungen gefunden werden können. Während die meisten der kleinen Kammern in der linken Seitenwand der Kirche als klassische Beichtstühle oder als offeneres Beichtzimmer genutzt werden können, trägt einer an der rechten Seite ein grünes Notausgangsschild.

«In entsprechenden Referaten vor Studierenden führe ich diesen Beichtstuhl gerne als ideale Lösung an. Im Inneren der Kirche ist bis auf das Notausgangsschild alles erhalten. Die Holzauskleidung hinter den Türen wurde entfernt und aussen wurde in die Mauerausbuchtung, die jeder der Beichtstühle hat, ein Durchgang gebrochen und mit einer Tür exakt in dem Stil und Material versehen, wie auch die Eingangstüren sind», erklärt Reto Nussbaumer. Wer diesen Umstand nicht kennt, merkt  kaum, dass es jemals anders gewesen ist. Er oder Sie fragt sich vielleicht einfach, welch schrägen Sinn für Humor ein Architekt haben muss, der ein Notausgangsschild auf eine Beichtstuhltür montiert.

 

Bisher erschienen:
Dies war der vierte und letzte Beitrag der diesjährigen Horizonte-Sommerserie. Alle bisher erschienen Artikel können Sie nachlesen:
Der doppelteilige Auftakt: Aarau, Peter und Paul; Ennetbaden, St. Michael
Suhr, Kirche Heilig Geist
Buchs, St. Johannes

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