26.12.2022

Schwindendes Interesse an öffentlichen Ämtern macht sich auch in Kirchenpflegen bemerkbar
«Ich bin kein Freund von Fusionen»

Von Christian Breitschmid

  • Die Gesamterneuerungswahlen der Aargauer Kirchenbehörden haben gezeigt, dass es immer schwieriger wird, neue Kandidaten zu finden.
  • Es scheint, als dürften die Altgedienten dürfen einfach nicht aufhören.
  • Einer dieser Unentwegten ist Linus Hüsser, der im Interview erklärt, warum er im Amt bleiben muss.

Noch sind nicht alle Wahlergebnisse der kirchenbehördlichen Gesamterneuerungswahlen im Kanton Aargau ausgewertet, aber von Seiten der Landeskirche kann die negative Entwicklung der vergangenen Jahre leider nur bestätigt werden: Die Kirchenpflegen finden kaum mehr neue Mitglieder. Das führt dazu, dass altgediente Behördenmitglieder immer wieder verlängern müssen, wenn sie ihre Kirchgemeinde vor einer Sachwalterschaft durch die Landeskirche bewahren wollen. Einer dieser Unentwegten ist Linus Hüsser aus Ueken.

Herr Hüsser, an der Kirchgemeindeversammlung von Herznach-Ueken wurden sie vor einem Jahr geehrt für 20 Jahre als Kirchenpfleger. Eigentlich hatten Sie ja vor, auf Ende dieses Jahres zurückzutreten. Aber am 27. November wurden sie für weitere vier Jahre als Kirchenpflegepräsident wiedergewählt. Was ist passiert?
Linus Hüsser: Ich bin seit 21 Jahren Mitglied der KP und 20 Jahre deren Präsident. In dieser Zeit konnten wir Rücktritte jeweils ohne grossen Aufwand ersetzen. In der vergangenen Amtsperiode umfasste das Gremium sogar eine Person mehr als der Sollbestand von fünf Mitgliedern. Wir waren zu dritt, die zurücktreten wollten. Mit der Suche von Neumitgliedern haben wir schon 2021 begonnen. Mehrfache Aufrufe im Pfarrblatt «Horizonte» sowie unter den amtlichen Publikationen der Gemeinden Herznach und Ueken zeigten keine Wirkung, auch nicht die aufgelegten Flyer in der Kirche. Ebenso blieb die direkte Anfrage von Personen erfolglos – erfahrungsgemäss die beste Anwerbung. Letztendlich haben zwei Bisherigen sich entschieden, nochmals zu kandidieren, obwohl beide schon über 20 Jahre im Amt sind.

Man kann ja niemanden zu einem öffentlichen Amt zwingen in unserem Milizsystem. Warum haben Sie nicht einfach gesagt: «Jetzt reicht’s, ich will nicht mehr.» Andere tun das ja auch.
Natürlich darf man das sagen, vor allem wenn man schon fünf und mehr Amtsperioden hinter sich hat. Es war uns jedoch ein Anliegen, keine auf drei Mitglieder geschrumpfte KP zurückzulassen. Ein gewisses Pflichtgefühl trug zum Entscheid bei. Dass wir ein gutes Team sind und die KP gut funktioniert haben diesen Entschluss erleichtert. Aber ich muss ehrlicherweise sagen, dass diese Situation alles andere als optimal ist, wird doch das Problem, keine Nachfolger zu finden, vor sich her geschoben.

Warum haben Sie sich vor nunmehr 21 Jahren überhaupt dazu entschlossen, sich in der Kirchenpflege zu engagieren?
Ich bin der Ansicht, dass jeder Bürger und jede Bürgerin sich in irgendeiner Weise für die Allgemeinheit engagieren soll, egal ob in einer Behörde, einer Kommission, als Stimmenzähler, in der Kirche, in einem Vereinsvorstand und so weiter. Als unsere KP bei der Suche nach einem neuen Mitglied auf mich zukam, sagte ich nach einer «Schnuppersitzung» zu.

Haben Sie Ihren Entschluss, Kirchenpfleger zu werden, je bereut, und wenn ja, warum oder bei welcher Gelegenheit?
Nein.

Dann also gerne positiv formuliert: Was hat Ihnen besondere Freude bereitet und gefällt Ihnen heute noch an Ihrer Aufgabe als Kirchenpfleger?
Man trägt zum Funktionieren einer Pfarrei und einer Gemeinde, in diesem Fall einer Kirchgemeinde, bei. Schon dies gibt eine gewisse Befriedigung. Hinzu kommt, dass man als Kirchenpfleger immer auch neue Menschen kennenlernt und Neues lernt, was den persönlichen Horizont erweitert. Wir haben eine barocke Kirche, eine Kapelle mit einer ungemein interessanten Vergangenheit und ein für die Lokalgeschichte wertvolles Archiv. Als im Archivwesen tätiger Historiker gefällt mir natürlich der Umgang diesen Kulturobjekten.

Broschüre der Landeskirche

Die Römisch-Katholische Kirche im Aargau erläutert in ihrer neuen Broschüre «Eine starke Basis für eine starke Kirche» gut nachvollziehbar die verschiedenen Aufgaben einer Kirchenpflege. Die Broschüre lässt sich direkt von der Website der Landeskirche runterladen oder auch in gedruckter Form über die Mailadresse landeskirche@kathaargau.ch bestellen.

Horizonte hat im Laufe dieses Jahres immer mal wieder die Werbetrommel gerührt, um Leute zu interessieren für die Mitarbeit in der Kirchenpflege (siehe Artikel unten). Das scheint wenig gefruchtet zu haben. Was müsste man Ihrer Meinung nach tun, um neue Mitglieder zu rekrutieren?
Diese Frage stellt sich vielerorts etwa auch bezüglich der Neubesetzung von Gemeinderatssitzen und Vereinsvorständen. Kürzlich habe ich gelesen, dass in der Schweiz mehreren hundert Vereinen die Auflösung droht, unter anderem, weil sich niemand mehr im Vorstand engagieren oder das Präsidium ausüben möchte – offensichtlich eine Zeiterscheinung. Was die KP betrifft: Wie vorhin erwähnt, bringen Aufrufe selten etwas. Und dass «das Volk» Kandidatinnen oder Kandidaten sucht und portiert, wie dies in einer Demokratie eigentlich sein sollte, geschieht, wenn überhaupt, nur noch in wenigen Kirchgemeinden. Vor ein paar Jahren haben wir auch einen Infoabend für Interessierte angeboten, an dem wir die KP und ihre Aufgaben vorstellen wollten. Gekommen ist niemand. Ehrlich gesagt: Ich kann Ihre Frage nicht beantworten.

Es wird nachweislich immer schwieriger, Leute zu finden, die sich für öffentliche Ämter oder auch nur schon in Vereinen engagieren, respektive Verantwortung übernehmen wollen. Worin sehen Sie die Ursache?
Da gibt es mehrere Ursachen. Angeführt werden können etwa Bequemlichkeit, der vermehrte Rückzug ins Private, verbunden mit Interessenlosigkeit, Egoismus und Individualismus. Wahrscheinlich haben die Coronamassnahmen dies alles noch beschleunigt. Grundsätzlich spielt sicher der Wohlstand eine Rolle. Überspitz kann man von einer Wohlstandsdegeneration sprechen. Diese wird in Zukunft noch zunehmen. Auffallend ist, dass es stets die gleichen Personen sind, die sich in der Öffentlichkeit und für die Allgemeinheit engagieren, obwohl es unzählige andere gibt, die durchaus fähig wären und auch die Zeit dazu hätten.

Vielen Kirchgemeinden droht infolge Unterbesetzung der Kirchenpflege eine Sachwalterschaft. Dieser kostenintensive Schritt lässt sich vermeiden, wenn Kirchgemeinden innerhalb eines Pastoralraums oder eines Kirchgemeindeverbandes fusionieren und eine gemeinsame Kirchenpflege einsetzen. Was halten Sie von dieser Lösung?
Ich bin grundsätzlich kein Freund von Fusionen, wenn sie nicht zwingend sein müssen. Aber ich glaube schon, dass es aufgrund des zunehmenden Personalmangels im amtskirchlichen wie auch bei den staatskirchenrechtlichen lokalen Behörden früher oder später auf solche Grosskirchengemeinden hinauslaufen wird.

Das Urdemokratische an unserem Milizsystem ist es, dass jeder mündige Bürger wählen und gewählt werden darf. Wenn allerdings die Auswahl fehlt und sich kaum noch genügend Stimmberechtige an Gemeindeversammlungen und Wahlen beteiligen, wie lässt sich dieses System dann noch aufrechterhalten, geschweige denn rechtfertigen?
Ich erachte es als wichtig, dass jene, die Kirchensteuern entrichten, die Möglichkeit haben, über die Verwendung der Steuergelder mitbestimmen zu können. Dies setzt demokratische Strukturen voraus. Von daher finde ich das jetzige System gut. Wenn jemand nicht mitbestimmen will, ist er selber schuld.
Was die Exekutive, also die KP betrifft, bin ich schon lange der Meinung, dass unser viel gelobtes Milizsystem nicht überall, aber mancherorts an seine Grenzen stösst.
Mühe habe ich mit all jenen, die sich beklagen, in der Kirche kein Gehör zu finden und dass «Rom» und die Bischöfe die Bedürfnisse und Wünsche des Kirchenvolks nicht ernst nehmen würden. Dass viele dieser Personen in der Kirchgemeinde, also in der «Kirche vor Ort», wo man Einfluss nehmen kann, durch Abwesenheit glänzen, erachte ich als eine schizophrene Haltung.

Ist dieses Desinteresse der Kirchgemeindemitglieder Ihrer Meinung nach ein Problem oder gar Selbstverschulden der Kirche oder ist es doch ein ganz allgemeines Problem unserer Gesellschaft und deren offensichtlichen Bestrebens, das Individual- über das Allgemeinwohl zu stellen?
Sowohl als auch. Dass die Kirche aus bekannten Gründen an Ansehen verloren hat, mindert bei manchen Kirchenangehörigen die Bereitschaft, sich in einem staatskirchenrechtlichen Gremium zu engagieren. Doch auch auf der Ebene der politischen Gemeinden wird es immer schwieriger, Ämter zu besetzen, und immer mehr Vereine leiden darunter, keine Vorstandsmitglieder mehr zu finden. Was den zweiten Teil Ihrer Frage betrifft, kann ich nur wiederholen, was ich vorhin schon über die Ursachen für das fehlende Engagement der Leute gesagt habe.

Sie haben immer wieder versucht, neue Mitglieder für die Kirchenpflege zu gewinnen. Welche Gründe wurden Ihnen da angegeben, um sich nicht zur Wahl aufstellen zu lassen?
Da gab es natürlich einige: Bereits anderweitig engagiert – zum Beispiel in einem Verein –, die Angst vor zuviel Zeitaufwand oder für das Amt ungeeignet zu sein. Natürlich handelte es sich bei diesen Gründen nicht immer nur um Ausreden. Bei manchen spielte aber sicher hintergründig die Unlust, sich in einem öffentlichen Amt zu engagieren, eine Rolle. Man schätzt es zwar, wenn es in einer Behörde oder einem Verein rund läuft, möchte aber selbst nichts dazu beitragen beziehungsweise keine Verantwortung übernehmen.

Was meinen Sie, wird es diese weltweit einzigartige, teildemokratisierte Form der Kirchenorganisation, wie wir sie hier in der Schweiz kennen, das sogenannte duale System, in 50 oder 100 Jahren noch geben?
Unsere Zeit wird immer schnelllebiger, der Wandel immer rasanter, die Gesellschaft verändert sich schneller als uns lieb ist und uns gut tut, auch in den Bereichen Religion und Kirche. Es ist davon auszugehen, dass sich auch unsere duale Kirchenorganisation stark verändern wird. Wie stark und auf welche Art und Weise, wage ich nicht zu prophezeien.


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